Editorial

Milchkühe, die am Waldrand weiden, gelegentlich den Kopf heben und mit grossen Augen über die Stadtlandschaft am Fuss des Uetlibergs blicken, ein Landwirtschaftsbetrieb mitten im Siedlungsraum, der täglich tausend Liter Milch produziert, pasteurisiert und verpackt, Honigbienen, die in der Innenstadt auf Flachdächern oder in geflochtenen Bienenkörben im Quartiergarten am Stadtrand hausen: Zürich ist eine Stadt, wo Milch und Honig fliessen. Auch Stiefelgeissen, Schweine und Hühner werden in Zürich gehalten. In Kooperativen, Familien- und Privatgärten gedeiht Gemüse aller Art, in der Stadtgärtnerei werden seltene Tomatenvarietäten gezogen und in Obstgärten reifen traditionelle Apfel-, Zwetschgen- und Beerensorten.

Die NahReisen des Sommers 2015 führen in Viehställe, Gemeinschafts- und Familiengärten, auf Weinberge und Quartierhöfe, zu Gartenclubs, Bienenvölkern und Dachgärten.

Auch wenn etwa ein Zehntel des Stadtgebiets aus landwirtschaftlichen Nutzflächen besteht und die Familiengartenareale weitere rund anderthalb Quadratkilometer einnehmen, so bewegt sich der Anteil der städtischen Produktion an der Lebensmittelversorgung der Stadtbevölkerung im Bereich weniger Prozente. Doch die Bedeutung geht weit über die Lebensmittelproduktion hinaus: Zürich verdankt einen Grossteil der Biodiversität der Landwirtschaft und der Gartenlandschaft – so führen NahReisen-Ausflüge im Kontext der gärtnerischen und landwirtschaftlichen Produktion auch zu Blumenwiesen und Mehlschwalbenkolonien, auf einen Kleinstrukturenlehrpfad und in Gärten, wo sich Igel und Eidechsen wohlfühlen.

Wer Kinder sieht, die trotz Regenwetters mit Augen fast so gross wie Kuhaugen am Stadtrand Ponys, Hühner und Kühe beobachten, bevor die Familie im Hofladen einkauft, oder ihnen beim Spiel im «Niemandsland» eines Zwischennutzungsgarten zuschaut, stellt fest, dass Bauernhöfe und Gärten aller Art einen unschätzbaren Wert für die städtische Gesellschaft darstellen. Quartierbewohner, die Kaninchen und Wollschweine füttern und Mostfeste feiern, Kindergärtler, die ihre Zeit im Quartiergarten verbringen (und vergessen), Stadtmenschen, die sich mit dreckigen Händen bei der Gartenarbeit «erden», junge und alte Gärtnerinnen, die Erfahrungen mit ganzheitlichem Denken, ökologischen Kreisläufen und gemeinschaftlicher Organisation entwickeln, Schulkinder, die im Gartenclub erleben, wie Bohnen undZucchetti wachsen und neue Formen des Lernens und der Zusammenarbeit erfahren: Die produktiven Grünflächen übernehmen für die Stadt Zürich lebenswichtige Funktionen als Erholungsräume, als Felder für elementare Erfahrungen und zukunftsgerichtete Experimente.

Die NahReisen 2015 schauen über Weide- und Gartenzäune hinaus und beschäftigen sich auch mit der lokalen Landwirtschaft zur Römerzeit und dem Mehranbau während der «Anbauschlacht» im Zweiten Weltkrieg, verfolgen Bilder und Geschichten, die sich um Erbsen ranken, führen in den Schlachthof, ins Gräserland und in Pilzgaragen und beschäftigen sich mit Food Waste. Einige Veranstaltungen werden durch den Genuss landwirtschaftlicher und gärtnerischer Produkte abgerundet – Milch und Milchreis, Most, Wein und Schnaps, Äpfel und Beeren, Brennnessel- und Erbsensuppe, einem Apéro aus Lebensmittelüberschüssen und einem lukullischen Mahl nach altrömischen Rezepten, stilgerecht serviert in antiker Kleidung.